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Im Lauf der Jahre habe ich schon öfter über meinen Bruder geschrieben. Wenn wir uns einen Vorwurf machen können, dann den, zu bescheiden gewesen zu sein. Immerhin hat mein Bruder, den zeitgenössischen Kunstströmungen mehr oder weniger zum Trotz, sein umfangreiches Werk geschaffen. Es ist ihm nicht nur gelungen, seine Skulpturen zu produzieren, er hat gleichzeitig mithilfe dieser Skulpturen dem umgebenden Raum ein paar neue und höchst persönliche Fragen gestellt.
Seit gut vierzig Jahren ist mein Bruder als Bildhauer tätig. Mehr und mehr Jahre sind vergangen. Wenn auch bei Gelegenheit von Ausstellungen die Skulpturen klassisch präsentiert sind, jede für sich auf einem extra für sie erfundenen Sockel, frei im Raum stehend und von allen Seiten gut zu betrachten, fristen sie ihr Dasein für gewöhnlich doch als Gruppe, als Menge, als Haufen, der, ungeachtet der tausenden in sie eingeschriebenen und eingegrabenen Informationen, dem großen Raum ringsum bange Fragen stellt.
»Wo nun? Wer nun? Wann nun?«
Natürlich sagen alle diese Arbeiten etwas, wenn du dich je einzeln mit jeder von ihnen einläßt. Aber am meisten sagen sie vielleicht, wenn du sie einfach als eine Familie auffasst, eine Gruppe, zwischen deren Mitgliedern Verwandtschaftsbeziehungen herrschen. Da sind dann die Farben, groß und klein, liegend, aufgerichtet, hingelegt oder hingestellt.
Gerade dadurch, dass die Skulpturen etwas erzählen wollen, weisen sie mich hin auf den Raum, in den hinein sie ihre Geschichten erzählen und der selber nichts erzählt.
Die Familie der Roseischen Plastik ist gekennzeichnet durch einen Satz von wiederkehrenden Zeichen, die einerseits an den Satz der Zahlen, andererseits an den der Musik erinnern. Was sie je einzeln ausdrücken, ist vorsprachlich, aber will doch zur Sprache hin. Über die vielfach anthropomorphe Grundgestalt erscheinen sie bald wie Verzauberte, wie Unerlöste, auch wie eingefrorene und isolierte Ausdrucksgesten, die in den umgebenden Raum deuten.
Diese Arbeiten sind nicht autonom oder selbstverfangen: Sie brauchen und fordern geradezu das Gegenüber, den Betrachter, den, der gerade vorüberkommt.
Wir dürfen nicht vergessen, dass wir im großen Raum ganz ohne Orientierung sind. Man könnte sagen: Diese Figuren flüstern dir ihre je eigene Geschichte zu; die freilich, in aller Deutlichkeit und Präzision zu vernehmen, ihrem Sinn nach auslegbar bleibt.
Dies ist eine Zeit, die das ausgeführte und durchgearbeitete Argument rasch desavouiert. Mit großer Geschwindigkeit arbeiten sich Satz und Gegensatz aneinander ab. Oft gelten beide gleichzeitig für richtig. In einer solchen Lage ist der deutliche Verweis auf etwas, auf einen Sachverhalt, auf eine Geschichte, die ihrem Sinn nach nicht letztgeklärt werden kann, noch das Ehrlichste, was zu erhoffen ist.
Entropie der Bedeutung. Unglück der einsamen Seele. Ausflüge zum Pathos. Abschluss in einer Form, die ganz und gar gewollt, fassen wir aber den ungeheuren Raum ins Auge, doch wieder nur tastend, wenn nicht zufällig ist.
Interaktion. – Jede Geschichte sucht den, der sie hören will. Der Text oder die Botschaft, wenn Sie es ganz einfach haben wollen, fasst sich im urteilenden Anschauen des Vorübergehenden.
Und wie entsteht jetzt das Schöne?