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Kürzlich, auf einer Reise durchs Gebirge, fiel mir folgende Erklärung zur Arbeit meines Bruders ein: Kennten die Kristalle im Berginneren menschliche Freuden und menschliches Leid, sie könnten mit den Plastiken von Franz Rosei verwandt sein. Was will ich damit sagen? Einerseits kennzeichnet das Werk meines Bruders ein Formgesetz, wie es auch die Natur bestimmt, etwa das Wachsen der Kristalle. Was nichts anderes heißt, als dass sich im Formungsprozess ein gewissermaßen eingeborenes Konzept realisiert. Diese Art von Schönheit bestimmt ein Geist, dem nichts Menschliches anhaftet, der immer schon da war, etwa im Konzept der Symmetrie, der jeweiligen spezifischen Dichte der Materialien, der Farben etc. Überlasse dich ihm! Und dann, gleichzeitig oder parallel dazu oder auch im Widerspruch dazu, denk daran, was Du erlebt hast, wie dein Schicksal war – und das drücke dann aus! Die Arbeiten meines Bruders, könnte man sagen, sind solcherart Hybride, sie leben von der Spannung zwischen einem allgemein vorgegebenen und einem höchst intimen Plan.
Seit den Anfängen in den siebziger Jahren habe ich die Arbeit meines Bruders mit Erklärungsversuchen und Kommentaren begleitet. Versuchen wir heute einmal, das alles ein wenig zusammenzufassen.
Zu Beginn war es vor allem der existentielle Aspekt, der mich interessiert hat: das Allein-Sein in der Werkstatt, die Schwere der Arbeit, die Präzision der Arbeitsvorgänge – und insbesondere der Umstand, dass die Art des Vorgehens, wie mein Bruder sie pflegt, keine Fehler erlaubt. Taille directe. Es gibt kaum Möglichkeiten zur Korrektur. Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt, wie es bei Kafka heißt, es ist nie mehr gut zu machen.
Dass bei jedem Schlag mit Hammer und Meißel das Ganze des Werks auf dem Spiel steht, unterscheidet diese Art Vorgehen vom Leben, und doch auch wieder nicht. Dass wir in der fertigen Plastik ein tausendfach geschliffenes und überarbeitetes Ding vor uns haben, verbindet sie einerseits mit der Natur von Geröllbrocken oder Kieselsteinen, andererseits mit Vorgängen, wie sie uns aus jeder Art von Gedankenarbeit bekannt sind: Einfall, formale Überlegungen, Subgedanken, Wucherungen, Verwerfen der Form, weil sie das Gedachte nicht mehr fassen kann, Anpassung der Form, revidierte Form, neue Gedanken usf. Bei dieser Vorgehensweise, könnte man sagen, steckt der ursprüngliche Einfall tief drinnen im Stein, er verbirgt sich, alles Material wird durch Gedankenarbeit vergeistigt, das Werk strahlt.
Noch einmal: Spontanität wird man im Werk meines Bruders vergeblich suchen. Der erste Einfall, und die anderen Einfälle dazu, sind jetzt, wo die Bildwerke vor uns stehen, bloß Zuträger der Form. Alles Persönliche verschwindet mehr und mehr im Fortgang der Beschäftigung. Durch Arbeit und wieder Arbeit gehen die Gedanken Verbindungen ein, die ursprünglich wohl nur zum Teil gewusst, im Lauf des Vorgangs sich zwingend einstellen: Das Konstrukt selbst übernimmt das Kommando, genährt und gesättigt vom Denken des Machers. Man könnte auch sagen: Die Kunst von Franz Rosei besteht in einem Denken, das sich in Bildwerken konkretisiert. Die gut lesbare und erkennbare Oberfläche, aber auch der innere Bau geben nur Hinweise auf die uns überbrachte Botschaft: Sie selbst steckt im Inneren, im Abstrahlen der Kraft und der Gedanken, die der Bildhauer im Fortgang der Arbeit in sein Werk investiert hat.
Später habe ich mich auf einzelne Plastiken konzentriert, sie zu deuten versucht. Dabei geriet immer mehr die Art und Weise in den Fokus, wie sich die Plastiken schlussendlich präsentieren: Schönheit der Materialen ist das eine, eine bestimmte Art von Geschmack, von dem sie zeugen, das andere, die Haltung, die sich zuletzt darin ausdrückt, ein Drittes. Haltung? Letztlich bestimmt unsere Einstellung zu den Grundtatsachen des Lebens, Glück und Freude, Unglück und Leid, Schmerz und Tod, die vielfachen Nuancen, mit denen sie uns im Leben begegnen, was man Charakter nennt. Welchen Charakter haben nun die Arbeiten, die ich vor mir habe? Soweit ich sehe, ist es die Vorstellung von Widerständigkeit, Widerspenstigkeit, ja, von einer Art Trotz, gepaart mit Gelassenheit und einer sanften Melancholie, was hier zur Gestalt wird. So ist es, ja, so ist es, hört man die Skulpturen gleichsam sagen, wie man es, schaut man den Ungeheuerlichkeiten des Lebens ins Auge, gelegentlich zu sich selbst sagt.
Schließlich ergab sich ein weiterer Schritt der Analyse: Womit erzielt der Künstler denn seine Wirkungen, wie macht das mein Bruder? Zum einen ist es ein Kanon von beinah abstrakt aufgefassten, oft anthropomorphen Großformen, Kopf, Körperschaft, Fußteil, die mit kleineren Details wie Falten, Höckern und Mulden spielen. Dazu kommen Risse, Adern, Abschattierungen im Stein, die ebenfalls bewusst eingesetzt scheinen. So betrachtet sind die Skulpturen Zeichensysteme, dazu da, uns etwas zu erzählen. Eine Geschichte? Mir kommt vor, sie erzählen uns Geschichten.
Stellenweise kann das semiotische Gespinst aufgebrochen sein: Da zeigen die Figuren dann beinah ironisch vor, woraus sie gemacht sind, aus Stein eben.
Man könnte die Skulpturen meines Bruders solcherart als eine Art von Schrift oder Tagebuch auffassen, als Lebensbericht auch oder, besser noch, als fortwährend addierte Summe. So fasst sich das Erlebte und Gedachte jeweils zusammen, steht da, bleibt zurück – wie Kilometersteine an einer Straße.
Unlängst einmal schrieb ich: In einer Welt, die nicht am Ärmel gehalten werden will, gehen die Fragen, die mein Bruder mit seinen Skulpturen aufwirft, leicht im Durcheinander von natürlichen und künstlichen Dingen unter: Felsen oder Bäume, Leitschienen an der Autobahn, vorüberfliegende Lichtmasten, die auch keiner beachtet, weil wir ein Leben führen, von dem wir nicht wissen – und meist auch nicht wissen wollen – was für ein Leben das ist.
Das Traumverhangene, Versponnene und tief Nachdenkliche dieser Art von Treiben sollte uns die Tatsache nicht verbergen, dass es das eine ist, aufs Fragen aus zu sein, das andere aber, den Fragen, wie sie sich stellen, nicht aus dem Weg zu gehen.