Ernst Nowak

Ernst Nowak

Felder

Im elfen­bein­weißen Raum steht und liegt elfen­bein­weiß Ver­häng­tes und Ver­hüll­tes. Die Tücher sind sorg­fältig darüber­gebreitet, herum­ge­wun­den, zurecht­gezogen. Aus Fal­tung, Win­dung, Bau­schung er­geben sich eige­ne Tuch­ge­bilde. Wo die Tücher auf­liegen, span­nen oder in Mul­den ab­ge­sunken sind, lassen sich For­men ver­muten. Zum Ver­hüll­ten ge­hören Gestel­le, Tische, kleine tra­gende Bühnen, manche fahr­bar, Böcke, Sockel, auch sie manch­mal so auf­ge­baut als seien sie der untere schon un­ver­hüllte Teil eines oben noch Ver­hüll­ten. Ich stehe an einem Sterbe­bett. Zwi­schen Möbeln in ihren Schutz­hüllen gegen Staub und Sonnen­licht. Um mich Waren, Ge­spenster, Ver­schwör­ungen, ver­schlei­erte Frauen, Auf­bahr­ungen. Das Ver­hüllte soll auf­be­wahrt werden, ge­wärmt, ge­kühlt, für späteren Ge­brauch. Es soll nicht ent­kommen können und soll ein Geheim­nis bleiben. Es soll vor den begehr­lichen Blicken ge­schützt sein, die es an sich zieht. Noch soll es nicht ge­sehen und auf­gedeckt werden, denn das Spiel mit der Er­wartung lebt vom Hinaus­zögern (ver­hüllen heißt auch: nach getaner Ar­beit ist gut ruhen, dann erst folgt die Posse der Denk­mal-Ent­hüllung mit ihrem er­leichter­ten Bei­fall). Das Verhüllte soll nicht da sein. Es soll mich nicht sehen können: so bin ich ge­schützt und muß es nicht sehen. So ent­täuschend könnte es sein. So uner­träglich. Ich könnte zu Stein werden, wenn ich er­kenne. Nie würde ich ohne Er­laub­nis die Hülle ent­fernen: ich griffe nach fremdem Eigen­tum. Auch könnte ich mir schon an der Hülle die Finger ver­brennen, schon die Hülle könnte sich unter der Hand ver­wandeln oder mir zwischen den Fingern zerrinnen. Die Angst um das Ver­hüllte trifft auf die Angst vor dem Ver­hüllten.

Ein Bann­kreis ist um diesen Körper ge­zogen. Daß ich unver­sehens in einem An­dachts­raum bin, macht mich be­klommen. Ich bin lieber vor­sichtig. Diese Körper sind augen­los, aber ich spüre, sie schau­en mich an. Ihr Zau­ber kann bös und gut sein. Ich weiß nicht, ob ich sie be­rühren soll. Ich habe gehört, daß, was einmal in Be­rührung ge­kommen ist, für immer in Be­ziehung ver­bunden bleibt. Auch sind sie so fehler­los. Eine Finger­spur nur, eine kleine Unacht­samkeit, und schon könnten sie ver­dor­ben und un­gültig sein. Ich merke schon: obwohl sie sicht­lich hart und schwer sind, wollen sie be­handelt sein wie ein rohes Ei. Ich habe solche Kör­per noch nie ge­sehen, nur ähn­liche. Ihre Last ist mit Be­dacht ver­teilt und aus­gewogen, sie sind mir an­ge­boten: erhöht und ins Licht gerückt. Weil sie sich nicht selbst um ihre Achse drehen, gehe ich um sie herum, so daß mein Blick sie in einer Art Schrauben­be­wegung ent­wickelt. Sie sind Raum- und Licht­fresser, mit Raum und Licht gefüttert, werden sie stark und er­zeugen (ich sehe es an ihren Kanten) selbst Licht und Raum. Sie sind un­benütz­bar. Sie sind die Ruhe selbst und scheinen ewig Zeit zu haben. Sie tun so, als seien sie auf nichts und niemand an­ge­wiesen und als zeigten sie mir die kalte Schulter. Dabei sind sie eine einzige (fast spöt­tische) For­de­rung: ich soll schauen, was sie mir zeigen, und horch­en, was sie mir sagen. Aber ich sehe nur mich, un­ruhig und klein neben ihrer Rein­heit und Härte, zwischen ihnen stehen und höre nur meine eige­nen Be­wegungen und was in mir selbst spricht. Ich weiß nicht, welches Macht­mittel ihnen mit­gegeben ist (wie anders sind die Hinter­grund-Dinge: Licht­schalter, Gas­zähler, Steck­dose, Kabel und Schläuche, die Reihen der Werk­zeuge, die Klötze und Keile, die Platten und Bretter, die Bürsten und Schwämme, die Stifte, das Dreieck, die Dosen und Tuben, das Foto, der be­schriftete Zettel, das Buch, die Kleider, Tür und Fenster…). Ich versuche, von der Toten­stille weg­zuhören. Was geschähe an diesen ver­wöhnten Körpern im Höllen­lärm oder in schmerz­haftem Licht, in ver­löschen­dem, zwischen tanzenden Schatten? Sollen sie doch her­unter von ihrem Sockel! Ich denke mir kleine Strafen aus: sie seien mit mir in einem finsteren Loch zusammen­ge­pfercht, ihre Gestalt wäre kaum zu ahnen, ich müßte mich tastend und greifend an sie pressen, um mich über sie hinweg und zwischen ihnen durch zu zwängen, daß ihr An­hauch sich mit meinem Atem mischte. Oder: was stehe, kippe, was liege, gleite, rolle, falle. Sie würden zer­brechen, zer­fielen wie die Zähne im Traum. Be­kritzeln, Zer­kratzen, Schmutz. Das Be­hütete verkomme im Winkel eines Lager­platzes, im Unter­holz, an einem flachen Ufer, in einem Trümmer­feld. Und daß ich zu diesen Körpern sage: was ich alles kann, davon könnt ihr nur träumen! Ich habe sie schließ­lich doch berührt: den zarten Staub an meinen Fingern habe ich ab­ge­waschen.

Ob Baum, Felsen­turm, Pfeiler, Pfahl: das Auf­gerichte­te allein genügt, darin nicht bloß einen Phallus, sondern ein ein­fachstes Menschen­bild zu sehen. Nur wenig wäre weg­zu­nehmen, schon griffe mit einer ersten ange­deuteten Glieder­ung die Ver­wand­lung um sich, bald zeigte sich auch Knochi­ges und Flei­schi­ges. Ich weiß, das ist durch und durch trockener Stein, an der Ober­fläche ist nichts anderes als in der Tiefe, und diese Ober­fläche ist nicht von innen her, sondern von außen hin geformt (ich sehe vor mir das unter Glas aus­gestellte be­malte Relief einer Gegend mit ihren Ebenen, Hügeln, Tälern, Bergen): aber wie selbst­verständlich beschreibe ich eine Menschen­körper­ober­fläche. Sie verbirgt, was feucht und lebendig, also un­be­rechenbar und be­drohlich sich bis zum Ab­sterben weiter ent­wickeln wird. Sie gibt einen Zwischen­bericht. Ihre feinen Wölb­ungen und Senken, oft kaum sichtbar, nur zu er­tasten, ihre Falten und Wellen deuten still, fast zärt­lich eine Geschichte des Sich­krümmens, Sich­windens, Sich­streckens an, der An­strengungen und An­spannungen, der Ver­härt­ungen und Ver­krampf­ungen, der Wuche­rungen, Krank­heiten und Schmer­zen, des Pressens und Zuckens. Da und dort zeigt sich ein ver­schämter An­flug von Kräfti­gung und Wohl­gefühl. Der Tod ist dicht über­wachsen. Es gibt keine Körper­öffnungen. Die Körper­grenze scheint eine Haut zu sein wie ich sie nicht kenne: keine ist so dünn und fest zu­gleich, von solcher Glätte und solch­em Glanz (es ist der Glanz von Innereien), sie scheint wie in farb­loses Drachen­blut getaucht. Aber wie es so ist (nichts gelingt ganz): da und dort ent­decke ich Stellen, die ver­letz­lich ge­blieben sein müssen, Ab­schürf­ungen, Schnitte, Auf­ge­rissenes, wo der Stein offen, fast heftig zu Tage tritt, bruch­rauh, spröde, steinerne Wunden und Narben, Be­schädigungen und Zu­ge­stoßenes auch dort, wo Menschen­gestaltiges und ver­traute Achsen ins be­fremd­lich Eckige und Kantige, in den Raum hinaus vor­ge­trieben und zu­geschliffen sind: steinerner Wellen­brecher und Bug, Grat, werk­zeug- und waffen­ähnlich ge­schärft, schon schartig. Es ist eine Geschichte der aus­ge­standenen Prüfungen (sie erst geben dem Stein­körper das Alter des Steinernen Zeugen, während sein erd­gevschichtliches Alter gar nicht be­dacht wird), der Haltungen, des Stand­haltens und der Hin­fälligkeit, des Sich­ent­ziehens und Sich­aus­setzens. Diese Ge­schichte, und nicht das Abbild eines Menschen­körpers wird nach­geformt. Sie wird her­gezeigt und lesbar an einem er­fundenen Stein­körper, in dem Menschen­gestalt (bei Lockerung der Gesetze des Körper­baus und Ver­schiebung des Ver­trauten ins mehr­deutig Fremde) mit Menschen­werk, dem Stein der Pfeiler, Sockel und Blöcke un­auf­löslich ver­schmolzen und gekreuzt ist (nicht ohne ein Augen­zwinkern hin zum Gehabe der Büsten und Stand­bilder und zum ge­wohnten Be­seelungs­bedürfnis). Der Stein­körper teilt das Ergebnis einer nach­forschenden Unter­suchung mit; zugleich wird über ihn der Verlauf dieser Unter­suchung nach­voll­ziehbar. Das Auf­ge­richtete be­hauptet hier nicht Herr­schaft, sondern beharr­liche, ja trotzige Macht­losig­keit, es ist ein Sich­aufrecht­halten mit an­gehal­tenem Atem und dem zurück­ge­haltenen Wunsch: stürzen, liegen, nichts mehr.

Manchen Steinen könnte ich Namen geben wie: der Rote, der Grüne, der Weiße, der Schwarze, der Gelbe, aber das weist nur auf den vor­herr­schenden Farb­ton eines Ge­menges (das ich bei anderer Ver­teilung nur hell, dunkel nennen könnte, wie Haut, bunt). Ich lese: in die Tiefe / die Flank­en der Felsen entlang / den Ver­färb­ungen folgend / vom rauh­en Schwarz / zum hellen Grau und trüben Gelb / ins klare Wasser tauch­end / und jen­seits / vom Weiß­lichen ins Röt­liche / bis auf den glatt geschliffenen Grund / vom blassen / ins dunkel klaffen­de Rot / als ob es Fleisch wäre. Ein rühr­ender Versuch, denke ich, in seiner schein­baren Genauig­keit auch nicht ein­deutiger als etwa die Be­merk­ung, eine Farbe sei böse, für mich aber sei sie gut, oder: eine Farbe könnte eine Eigen­farbe, aber auch eine Fremd­farbe und ein Wider­schein sein. Am Stein habe ich mit Mühe nach Farben suchen müssen. Klar da­gegen und gerade­zu fröh­lich sind mir dann die Farben aus der Werk­stätte ins Auge ge­sprungen: das Orange­rot der Sprüh­flasche, das Gelb der Gas­flasche, das Blau des Kompressors, das Grün der Karre; die Schachtel mit den blue­line-Fiber­scheiben zum Schleifen hat eine auf­ge­druckte rote Linie; die Körnung der Schleif­scheiben ist nach Nummern unter­schieden, denen eine Farbe zu­geordnet ist: 0 ist grün, 1 schwarz, 2 rot, 3 gelb, 4 gelb/weiß, und 5 blau/weiß. Auf dem Stein sind Stellen, wo noch in be­stimmte Richt­ung und Tiefe geschliffen werden soll, grün an­gezeichnet. Während diese Farbe mit dem Schleifen ver­schwindet, ent­steht am Stein eine be­lebende Färb­ung, Maserung und Zeich­nung (ohne sich wieder zu ver­flüchtigen, wie ich es oft an einem kleinen Fund­stück, einem nassen Stein, der rasch trocknet, mit an­sehen muß): hier Ge­sprenkel, kleinstes Ge­muster, Ge­dränge, Ge­flimmer, dort Gewölk, Gespinst, Wirbel, Flackern­des und Geflammtes, hin­ziehender Rauch, straffe und lose Bänder, Gerinnsel und Adern, Flecken, Inseln, Male, Zeichen – an­ge­schnittene Schicht­ungen, Gänge und Ein­schlüsse, umso aus­ge­prägter und farbiger je feiner ge­schliffen worden ist. So läßt sich aus dem Stein heraus ein Spiel und Gegen­spiel ent­wickeln: hier Form und Körper des Steins, dort seine Farbe und Zeich­nung, ein Spiel der Ebenen, Achsen und Ge­wichte, das den Stein schein­bar stützen, teilen, in Schief­lage bringen, leichter oder schwerer machen, ihm eine Drehung geben, ihn wachsen oder schrumpfen, sprechen oder schwei­gen lassen kann. Ich könnte auch sagen: hier der Fluß des Vor­habens und der Vor­stellungen, dort die ge­gebene Menge des Vor­ge­fundenen und Zu­fälligen. Oder: die natürliche Zeich­nung, Spur erd­geschichtlicher Vor­gänge, über­zieht, in gegen­wärtigen Lebens­zusammen­hang ge­bracht, den Stein­körper mit dem Anschein künstlicher Ereig­nisse.

Andere haben es be­merkt, mir selbst wäre es nie auf­ge­fallen, daß Arme und Beine fehlen, daß da kein Kopf ist. Nur nach dem Ge­schlecht habe ich ge­sucht. Das An­ge­fügte, Aus­ge­stülpte, daher Aus­ge­setzteste und Sperr­igste scheint (wie bei Aus­ge­grabenem aus alter Zeit) weg­gebrochen und ver­loren­ge­gangen. Oder alles ist weg­ge­lassen wie lästiges, nur ab­lenken­des Bei­werk oder wie das Selbst­verständ­lichste. Weg­ge­zaubert und ver­bannt, als ein Är­gernis aus­gerissen? Scheu? Scham? Damit dieser Körper von Uns­chönem be­freit ist? Damit er kein Gesicht und keinen Namen hat? Keine Zähne. Kein Zeichen für die Sinne, für Denken, Be­wegung, Ver­änderung, Äußerung. Kein Handeln, kein Sprechen, keine Ver­einigung und Zeugung. Es gilt kein Befehl und kein Verbot. Fleischer, Mörder, Quäler, Kinder trennen und reißen ab, was weg­hängt, bis nur noch der Rumpf bleibt. Äste werden ent­fernt. Der Rumpf ist toter noch als tot, end­gültig ent­wertet. Aber noch immer ist er zu­gleich Be­hälter und Grund­gerüst, das die Mitte und die Achsen vorgibt. Scheint es nicht auch, als sei ein voll­ständiges Ganzes (im Grunde das Menschen-Vorbild) ab­sichtlich bis auf den geball­ten Rest zer­schlagen oder der Körper bis dorthin zurück ab­gebaut worden? In Um­kehrung: der Rumpf sei ein bis hierher Ent­wickeltes und Aus­ge­arbeitetes, die Voraus­setzung (das Wichtigste zuerst!) für alles Weitere, das noch angefügt und ein­gesetzt werden soll, aber die Arbeit habe alle Auf­merk­samkeit und Kraft verbraucht, über dieser Arbeit sei das Weitere und das Ganze ver­gessen und aus den Augen ver­loren, als unnötig oder aber als uner­reichbar er­kannt worden (so daß hier auch noch mit dem Reiz des Scheiterns und stolzen Auf­gebens ge­spielt werden könnte). Ich hätte den Rumpf vor mir als eine hand­liche, klar umrissene Form: Frucht, Kern, Knolle, Klumpen, Gefäß, praller Sack, Sarg, Block, Bauteil, zu­gerichtetes Werk­stück (so kann ich sogar das Weg­gelassene, Kopf, Arm, Bein, Phallus, freilich auch das ver­bor­gene Herz als Rumpf sehen). Um jetzt vom Rumpf noch etwas weg­zu­nehmen, etwas heraus­zuholen oder hinein­zulegen, müßte ich ein­dringen. Es mit dem Rumpf genug sein lassen, wäre auch wie zu sagen: nein, ich will kein Gegen­stück zu meinem Kopf, keines zu meinem Ge­schlecht, zu meinen Armen und Beinen; es ist gut, daß das dort nicht mehr nach mir greifen, sich nicht fest­halten, nicht mehr aus­weichen kann; ich kann damit machen, was ich will, und ich habe, was dort fehlt.

Stein und Metall sind zwei Paar Schuhe. Kein Stein­körper kann so gleich­förmig, so un­durch­dringlich, so glatt sein wie ein auf Glanz ge­schliffener Metall­körper. Un­nahbarer, dichter ver­schlossen, strenger und reiner geht es nicht. Kein Fleisch. Der Stein ist da­gegen das Leben selbst. Die Metall­körper verraten nichts. Es ist ihnen nicht an­zu­sehen, daß sie der Ab­guß eines anderen Körpers sind und was sie hinter sich haben: Um­wege der Her­stellung im Wechsel von Ver­flüssigung und Er­starrung, von Schale und Kern, von Zer­teilen und Zusammen­setzen (die grat­ähnlichen Grenzen der Teile sind spurlos getilgt). Soll ein Metall­körper als un­wieder­hol­bares Einzel­stück (wie der Stein) ge­sehen werden, so wird er auch eines, obwohl er grund­sätzlich zu einer Reihe gleich­er Stücke zu ver­viel­fältigen wäre. Den Metall­körpern ist nicht an­zu­sehen, daß sie rauh und stumpf wie Guß­eisen ge­wesen sind. Sie wären jetzt gold­farben, wie neu, hätte nicht künst­liche Ver­färbung ihnen den An­schein von Alter und Un­ver­wüstlich­keit (damit von be­ständigem Wert) gegeben: sie sind aus dem Feuer her­vor­ge­gangen und werden dem Feuer wider­stehen wie auch dem Regen. Die künstvliche Ver­färbung ver­ändert eine natür­liche und nimmt eine andere natür­liche vorweg (so wird be­schleunigt und Zeit ge­wonnen): schon jetzt ist der Metall­körper von allen un­sicht­baren Ge­fahren der Welt durch­glüht, an­ge­haucht, ge­schwärzt, überronnen und ver­ätzt. Es ist die Ver­färb­ung des Ge­panzerten (ein Schimmer, der auch an den Flügel­decken mancher Käfer zu sehen ist). Und auch das ist den Metall­körpern nicht an­zu­sehen: daß sie ein um­panzerter Hohl­raum sind. Ob Kopf oder Rumpf, gleich welche Form, dieser Körper ist ein leeres Gehäuse, eine Hülse, eine Kapsel. Klopfte ich mit dem Finger­knöchel an die Wand, wäre ein hohler, rasch er­stickter Klang zu hören. Diese Körper wären auch an ihrem Klang zu unter­scheiden. Ich stelle mir vor, sie wären nicht auf­gestellt, sondern an ihrem Scheitelvpunkt auf­ge­hängt: an­ge­schlagen, würden sie frei schwingen und tönen wie Röhren­glocken, jeder nach seiner Art, eine fremde Körper­musik.

Wie kann es dazu kommen: nach einem ur­alten, aus dem Zusammen­hang ge­brochenen Stück unserer Welt zu suchen, unter großen Mühen und Kosten es an sich zu bringen (es ist ja so schwer, daß es den Boden durch­drücken könnte), um sich dann davor hinzu­stellen und es mit allem ver­füg­baren Können und Werk­zeug in (weil es so hart ist) kräfte- und zeit­rauben­der Arbeit so zu ver­ändern, bis es mehr oder weniger un­kennt­lich ist und als Anderes aus­gegeben und an­gesehen werden kann? Es heißt, es sei nur das Über­flüssige zu ent­fernen, und eine Form, die eigent­lich immer schon vor­handen gewesen sei, würde frei­gelegt und käme zum Vor­schein. Ich nähme mir also dieses Stück Stein vor (es könnte etwa ein Portugiese sein, der bei einem Stein­metz irgend­wo im Schlamm gelegen ist, auch ein ab­ge­kommener Grab­stein oder eine aus­gerissene Schwelle). Als meinen Gegen­spieler, viel­leicht auch als eines meiner Ge­schwister hätte ich es vor mir. Wir werden ja sehen, wie gut du bist, sagte ich und würde in den Stein ein­steigen. Ich arbeite­te wie in neuer Um­gebung: Fremde, Stille, Ein­samkeit (da lernt man!). Nahe am Block, näherte ich mich Schicht um Schicht, und noch immer wäre die Ober­fläche mir nicht voll­kommen genug, bis ich, von wachsen­dem Mißtrauen und Unvbe­hagen an­gestachelt, vor­erst zag­haft, gegen diese er­träumte Ober­fläche ar­beitete, sie ritzte, Lebens­zeichen in sie hinein und aus ihr heraus schlüge, schürfte, Fährten legte, Schrift hinter­ließe. Kleine Versuchs­felder tilgte ich nicht mehr, Stellen blieben un­be­arbeitet (als wäre hier der Stein von seinem Stein­grund los­gelöst worden oder aus sonst lücken­loser Ab­deckung eine Art Fenster für einen Ein­griff aus­ge­schnitten). Vielleicht müßte ich fest­stellen, daß der Stein, un­vor­her­seh­bar, nicht gut zu ar­beiten ist. Ich quälte mich, ich sagte zu ihm: ich bestimme die Form, nicht du! Er saugte mir das Wasser aus der Haut. Hilf mir doch!, sagte ich zu ihm, und zu mir: es wird schon! Aber es wäre doch ein zäher Kampf, immer mit dem Wunsch, von mir weg­zu­sehen. Ich fragte mich, ob ich mit dieser Arbeit nicht mich selbst vom Stein ab­spaltete und weg­schliffe. Ich ar­beitete hinein, um etwas heraus­zuarbeiten. Ich wüßte: ich über­trage etwas und zerstöre Schicht um Schicht den Stein, damit etwas entsteht. Ich folgte den Möglich­keiten. Ich wüßte: ich werde schleif­en, bis es genug ist, bis sich dort zeigt, was ich ge­sucht habe; bis ich keine Möglich­keit mehr sehe; oder sobald ich mich be­ruhigt habe. Es gibt zwar keinen letzten Schliff und nichts Fix­und­fertiges, aber ich sagte: fertig!, und schlüge mit der Hand freund­lich an diesen harten Körper wie einem Men­schen auf die Schulter oder einem lieben Tier an die Flanke. Meine Arbeit wäre kein Tage­buch gewesen, sie hätte mich in meinem Schmerz be­gleitet, ich hätte mit diesem Körper eine eigene Ge­schichte erlebt. So wie er vorher war, hätte ich ihn bald nur noch un­genau in Er­innerung. Jetzt heißt es, woanders hin­schauen, sagte ich, Leintuch drüber, das wars.

Überall und über allem der feine weiße Staub. Beim An­streifen an die Wand, beim Hin­greifen, beim Gehen, beim Hin­atmen ein zartes Auf­wirbeln. Der Staub brennt in den Augen, er dringt ins Innere des Kopfes und in die Lunge: ein Krank­macher, Schmerz­bereiter und Feind wie auch die Dünste der Säuren, Preis, der zu zahlen ist. Es ist nicht zu ändern. So wird weiter­gegeben, was weg­genommen worden ist. So wird Form ein­geatmet. Die Atem­schutz-Maske ist be­staubt. Vom Wand­brett hängt an glänzender Kette eine Taschen­uhr: spiegel­blank.

Hinter dem Obst­garten beginnt der Au­wald. Manch­mal ist das Wasser zu riechen. Aus der Nach­bar­schaft ewiges Ge­hämmer. Das Gras wächst so hoch: der Stein­block, der dort seit eh und je liegt und auf dem so gut zu sitzen ist, wäre kaum noch zu sehen, wäre zu ihm hin nicht schon ein kleiner Pfad aus­getreten. Wo die Wiese gemäht ist, liegt, von Wespen über­krochen, reich­lich Fall­obst. Wer soll das alles essen?

Ich sehe: ein müder Mensch stützt seinen Kopf so in die flache Hand, daß die Stirn und ein Auge be­deckt ist. Er scheint mit ge­schlossenen Augen, langsam atmend, aus­zu­ruhen. Aber das sicht­bare Auge läßt mich zweifeln: ist es nicht doch einen Spalt ge­öffnet? Blickt er also steil nach unten, auf eine Buch­seite, auf die andere schreibende oder zeichnende Hand? Nein, ich ent­scheide: die Augen sind ge­schlossen. Ist er ein­geschlafen? Oder hat er nur Stirn, Auge, Wange gerieben? Gleich wird er auf­schauen.

Ein weißes Recht­eck: von seinen Rändern ist es weit zu seiner Mitte. Die Mitte: ein ge­drängtes Nest von formen­dem Strich­werk, wasser­zart ge­höht, in kargen Erd­farben ge­tönt. Land­stück, Rüssel, Sprech­versuch, langes Rück­grat, Rücken­mark, Föhren­hügel, Holz­stöße, Fluß der Gedanken durch den Kopf. Die Heu­ballen, Six O’Clock Man, Krieger, sich ab­wendend. Bißchen Angst, lese ich, ich treffe dich, es ist nichts passiert, in der Stunde des Todes. Wir sind die Toten, wie Zweige, schön präpariert, nicht ver­söhnt.

Eine Spiel­karte, Herz­könig, ver­blaßt, ab­ge­schabt, fleckig, wohl auf der Straße oder im Kies eines Gast­gartens ge­funden, ist mit einer Steck­nadel an die Wand geheftet. Im schrägen Licht wirkt der bloß­gelegte Karten­grund rauh wie Stein. Die Krone hat einen schönen glatten Schwung nach außen. Der König könnte ein Mädchen sein, so rund und jung ist sein Gesicht, so fein sind Nase und Mund, so frisch ist der Blick zur Seite hinaus.

Wäre es mir in Fleisch und Blut über­ge­gangen, diese Körper zu er­finden, her­zu­stellen und ihre Ober­fläche tastend zu prüfen: mit welchen Ge­danken und Ge­fühlen berührte ich einen lebendigen Menschen­körper?

Novalis: die Steine seien das Höchste, der Mensch sei das eigentliche Chaos. Und: Steine wirkten auf den Stein­sinn des Menschen.

Ich höre: ein leerer Sack steht nicht. Ich lese: Farb­vertiefer. Bunker. Ein Guß Wasser. Leder­seife. Rost­löser. Zweck­form. Rohling. Der aus­gehöhlte Stamm.