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Im elfenbeinweißen Raum steht und liegt elfenbeinweiß Verhängtes und Verhülltes. Die Tücher sind sorgfältig darübergebreitet, herumgewunden, zurechtgezogen. Aus Faltung, Windung, Bauschung ergeben sich eigene Tuchgebilde. Wo die Tücher aufliegen, spannen oder in Mulden abgesunken sind, lassen sich Formen vermuten. Zum Verhüllten gehören Gestelle, Tische, kleine tragende Bühnen, manche fahrbar, Böcke, Sockel, auch sie manchmal so aufgebaut als seien sie der untere schon unverhüllte Teil eines oben noch Verhüllten. Ich stehe an einem Sterbebett. Zwischen Möbeln in ihren Schutzhüllen gegen Staub und Sonnenlicht. Um mich Waren, Gespenster, Verschwörungen, verschleierte Frauen, Aufbahrungen. Das Verhüllte soll aufbewahrt werden, gewärmt, gekühlt, für späteren Gebrauch. Es soll nicht entkommen können und soll ein Geheimnis bleiben. Es soll vor den begehrlichen Blicken geschützt sein, die es an sich zieht. Noch soll es nicht gesehen und aufgedeckt werden, denn das Spiel mit der Erwartung lebt vom Hinauszögern (verhüllen heißt auch: nach getaner Arbeit ist gut ruhen, dann erst folgt die Posse der Denkmal-Enthüllung mit ihrem erleichterten Beifall). Das Verhüllte soll nicht da sein. Es soll mich nicht sehen können: so bin ich geschützt und muß es nicht sehen. So enttäuschend könnte es sein. So unerträglich. Ich könnte zu Stein werden, wenn ich erkenne. Nie würde ich ohne Erlaubnis die Hülle entfernen: ich griffe nach fremdem Eigentum. Auch könnte ich mir schon an der Hülle die Finger verbrennen, schon die Hülle könnte sich unter der Hand verwandeln oder mir zwischen den Fingern zerrinnen. Die Angst um das Verhüllte trifft auf die Angst vor dem Verhüllten.
Ein Bannkreis ist um diesen Körper gezogen. Daß ich unversehens in einem Andachtsraum bin, macht mich beklommen. Ich bin lieber vorsichtig. Diese Körper sind augenlos, aber ich spüre, sie schauen mich an. Ihr Zauber kann bös und gut sein. Ich weiß nicht, ob ich sie berühren soll. Ich habe gehört, daß, was einmal in Berührung gekommen ist, für immer in Beziehung verbunden bleibt. Auch sind sie so fehlerlos. Eine Fingerspur nur, eine kleine Unachtsamkeit, und schon könnten sie verdorben und ungültig sein. Ich merke schon: obwohl sie sichtlich hart und schwer sind, wollen sie behandelt sein wie ein rohes Ei. Ich habe solche Körper noch nie gesehen, nur ähnliche. Ihre Last ist mit Bedacht verteilt und ausgewogen, sie sind mir angeboten: erhöht und ins Licht gerückt. Weil sie sich nicht selbst um ihre Achse drehen, gehe ich um sie herum, so daß mein Blick sie in einer Art Schraubenbewegung entwickelt. Sie sind Raum- und Lichtfresser, mit Raum und Licht gefüttert, werden sie stark und erzeugen (ich sehe es an ihren Kanten) selbst Licht und Raum. Sie sind unbenützbar. Sie sind die Ruhe selbst und scheinen ewig Zeit zu haben. Sie tun so, als seien sie auf nichts und niemand angewiesen und als zeigten sie mir die kalte Schulter. Dabei sind sie eine einzige (fast spöttische) Forderung: ich soll schauen, was sie mir zeigen, und horchen, was sie mir sagen. Aber ich sehe nur mich, unruhig und klein neben ihrer Reinheit und Härte, zwischen ihnen stehen und höre nur meine eigenen Bewegungen und was in mir selbst spricht. Ich weiß nicht, welches Machtmittel ihnen mitgegeben ist (wie anders sind die Hintergrund-Dinge: Lichtschalter, Gaszähler, Steckdose, Kabel und Schläuche, die Reihen der Werkzeuge, die Klötze und Keile, die Platten und Bretter, die Bürsten und Schwämme, die Stifte, das Dreieck, die Dosen und Tuben, das Foto, der beschriftete Zettel, das Buch, die Kleider, Tür und Fenster…). Ich versuche, von der Totenstille wegzuhören. Was geschähe an diesen verwöhnten Körpern im Höllenlärm oder in schmerzhaftem Licht, in verlöschendem, zwischen tanzenden Schatten? Sollen sie doch herunter von ihrem Sockel! Ich denke mir kleine Strafen aus: sie seien mit mir in einem finsteren Loch zusammengepfercht, ihre Gestalt wäre kaum zu ahnen, ich müßte mich tastend und greifend an sie pressen, um mich über sie hinweg und zwischen ihnen durch zu zwängen, daß ihr Anhauch sich mit meinem Atem mischte. Oder: was stehe, kippe, was liege, gleite, rolle, falle. Sie würden zerbrechen, zerfielen wie die Zähne im Traum. Bekritzeln, Zerkratzen, Schmutz. Das Behütete verkomme im Winkel eines Lagerplatzes, im Unterholz, an einem flachen Ufer, in einem Trümmerfeld. Und daß ich zu diesen Körpern sage: was ich alles kann, davon könnt ihr nur träumen! Ich habe sie schließlich doch berührt: den zarten Staub an meinen Fingern habe ich abgewaschen.
Ob Baum, Felsenturm, Pfeiler, Pfahl: das Aufgerichtete allein genügt, darin nicht bloß einen Phallus, sondern ein einfachstes Menschenbild zu sehen. Nur wenig wäre wegzunehmen, schon griffe mit einer ersten angedeuteten Gliederung die Verwandlung um sich, bald zeigte sich auch Knochiges und Fleischiges. Ich weiß, das ist durch und durch trockener Stein, an der Oberfläche ist nichts anderes als in der Tiefe, und diese Oberfläche ist nicht von innen her, sondern von außen hin geformt (ich sehe vor mir das unter Glas ausgestellte bemalte Relief einer Gegend mit ihren Ebenen, Hügeln, Tälern, Bergen): aber wie selbstverständlich beschreibe ich eine Menschenkörperoberfläche. Sie verbirgt, was feucht und lebendig, also unberechenbar und bedrohlich sich bis zum Absterben weiter entwickeln wird. Sie gibt einen Zwischenbericht. Ihre feinen Wölbungen und Senken, oft kaum sichtbar, nur zu ertasten, ihre Falten und Wellen deuten still, fast zärtlich eine Geschichte des Sichkrümmens, Sichwindens, Sichstreckens an, der Anstrengungen und Anspannungen, der Verhärtungen und Verkrampfungen, der Wucherungen, Krankheiten und Schmerzen, des Pressens und Zuckens. Da und dort zeigt sich ein verschämter Anflug von Kräftigung und Wohlgefühl. Der Tod ist dicht überwachsen. Es gibt keine Körperöffnungen. Die Körpergrenze scheint eine Haut zu sein wie ich sie nicht kenne: keine ist so dünn und fest zugleich, von solcher Glätte und solchem Glanz (es ist der Glanz von Innereien), sie scheint wie in farbloses Drachenblut getaucht. Aber wie es so ist (nichts gelingt ganz): da und dort entdecke ich Stellen, die verletzlich geblieben sein müssen, Abschürfungen, Schnitte, Aufgerissenes, wo der Stein offen, fast heftig zu Tage tritt, bruchrauh, spröde, steinerne Wunden und Narben, Beschädigungen und Zugestoßenes auch dort, wo Menschengestaltiges und vertraute Achsen ins befremdlich Eckige und Kantige, in den Raum hinaus vorgetrieben und zugeschliffen sind: steinerner Wellenbrecher und Bug, Grat, werkzeug- und waffenähnlich geschärft, schon schartig. Es ist eine Geschichte der ausgestandenen Prüfungen (sie erst geben dem Steinkörper das Alter des Steinernen Zeugen, während sein erdgevschichtliches Alter gar nicht bedacht wird), der Haltungen, des Standhaltens und der Hinfälligkeit, des Sichentziehens und Sichaussetzens. Diese Geschichte, und nicht das Abbild eines Menschenkörpers wird nachgeformt. Sie wird hergezeigt und lesbar an einem erfundenen Steinkörper, in dem Menschengestalt (bei Lockerung der Gesetze des Körperbaus und Verschiebung des Vertrauten ins mehrdeutig Fremde) mit Menschenwerk, dem Stein der Pfeiler, Sockel und Blöcke unauflöslich verschmolzen und gekreuzt ist (nicht ohne ein Augenzwinkern hin zum Gehabe der Büsten und Standbilder und zum gewohnten Beseelungsbedürfnis). Der Steinkörper teilt das Ergebnis einer nachforschenden Untersuchung mit; zugleich wird über ihn der Verlauf dieser Untersuchung nachvollziehbar. Das Aufgerichtete behauptet hier nicht Herrschaft, sondern beharrliche, ja trotzige Machtlosigkeit, es ist ein Sichaufrechthalten mit angehaltenem Atem und dem zurückgehaltenen Wunsch: stürzen, liegen, nichts mehr.
Manchen Steinen könnte ich Namen geben wie: der Rote, der Grüne, der Weiße, der Schwarze, der Gelbe, aber das weist nur auf den vorherrschenden Farbton eines Gemenges (das ich bei anderer Verteilung nur hell, dunkel nennen könnte, wie Haut, bunt). Ich lese: in die Tiefe / die Flanken der Felsen entlang / den Verfärbungen folgend / vom rauhen Schwarz / zum hellen Grau und trüben Gelb / ins klare Wasser tauchend / und jenseits / vom Weißlichen ins Rötliche / bis auf den glatt geschliffenen Grund / vom blassen / ins dunkel klaffende Rot / als ob es Fleisch wäre. Ein rührender Versuch, denke ich, in seiner scheinbaren Genauigkeit auch nicht eindeutiger als etwa die Bemerkung, eine Farbe sei böse, für mich aber sei sie gut, oder: eine Farbe könnte eine Eigenfarbe, aber auch eine Fremdfarbe und ein Widerschein sein. Am Stein habe ich mit Mühe nach Farben suchen müssen. Klar dagegen und geradezu fröhlich sind mir dann die Farben aus der Werkstätte ins Auge gesprungen: das Orangerot der Sprühflasche, das Gelb der Gasflasche, das Blau des Kompressors, das Grün der Karre; die Schachtel mit den blueline-Fiberscheiben zum Schleifen hat eine aufgedruckte rote Linie; die Körnung der Schleifscheiben ist nach Nummern unterschieden, denen eine Farbe zugeordnet ist: 0 ist grün, 1 schwarz, 2 rot, 3 gelb, 4 gelb/weiß, und 5 blau/weiß. Auf dem Stein sind Stellen, wo noch in bestimmte Richtung und Tiefe geschliffen werden soll, grün angezeichnet. Während diese Farbe mit dem Schleifen verschwindet, entsteht am Stein eine belebende Färbung, Maserung und Zeichnung (ohne sich wieder zu verflüchtigen, wie ich es oft an einem kleinen Fundstück, einem nassen Stein, der rasch trocknet, mit ansehen muß): hier Gesprenkel, kleinstes Gemuster, Gedränge, Geflimmer, dort Gewölk, Gespinst, Wirbel, Flackerndes und Geflammtes, hinziehender Rauch, straffe und lose Bänder, Gerinnsel und Adern, Flecken, Inseln, Male, Zeichen – angeschnittene Schichtungen, Gänge und Einschlüsse, umso ausgeprägter und farbiger je feiner geschliffen worden ist. So läßt sich aus dem Stein heraus ein Spiel und Gegenspiel entwickeln: hier Form und Körper des Steins, dort seine Farbe und Zeichnung, ein Spiel der Ebenen, Achsen und Gewichte, das den Stein scheinbar stützen, teilen, in Schieflage bringen, leichter oder schwerer machen, ihm eine Drehung geben, ihn wachsen oder schrumpfen, sprechen oder schweigen lassen kann. Ich könnte auch sagen: hier der Fluß des Vorhabens und der Vorstellungen, dort die gegebene Menge des Vorgefundenen und Zufälligen. Oder: die natürliche Zeichnung, Spur erdgeschichtlicher Vorgänge, überzieht, in gegenwärtigen Lebenszusammenhang gebracht, den Steinkörper mit dem Anschein künstlicher Ereignisse.
Andere haben es bemerkt, mir selbst wäre es nie aufgefallen, daß Arme und Beine fehlen, daß da kein Kopf ist. Nur nach dem Geschlecht habe ich gesucht. Das Angefügte, Ausgestülpte, daher Ausgesetzteste und Sperrigste scheint (wie bei Ausgegrabenem aus alter Zeit) weggebrochen und verlorengegangen. Oder alles ist weggelassen wie lästiges, nur ablenkendes Beiwerk oder wie das Selbstverständlichste. Weggezaubert und verbannt, als ein Ärgernis ausgerissen? Scheu? Scham? Damit dieser Körper von Unschönem befreit ist? Damit er kein Gesicht und keinen Namen hat? Keine Zähne. Kein Zeichen für die Sinne, für Denken, Bewegung, Veränderung, Äußerung. Kein Handeln, kein Sprechen, keine Vereinigung und Zeugung. Es gilt kein Befehl und kein Verbot. Fleischer, Mörder, Quäler, Kinder trennen und reißen ab, was weghängt, bis nur noch der Rumpf bleibt. Äste werden entfernt. Der Rumpf ist toter noch als tot, endgültig entwertet. Aber noch immer ist er zugleich Behälter und Grundgerüst, das die Mitte und die Achsen vorgibt. Scheint es nicht auch, als sei ein vollständiges Ganzes (im Grunde das Menschen-Vorbild) absichtlich bis auf den geballten Rest zerschlagen oder der Körper bis dorthin zurück abgebaut worden? In Umkehrung: der Rumpf sei ein bis hierher Entwickeltes und Ausgearbeitetes, die Voraussetzung (das Wichtigste zuerst!) für alles Weitere, das noch angefügt und eingesetzt werden soll, aber die Arbeit habe alle Aufmerksamkeit und Kraft verbraucht, über dieser Arbeit sei das Weitere und das Ganze vergessen und aus den Augen verloren, als unnötig oder aber als unerreichbar erkannt worden (so daß hier auch noch mit dem Reiz des Scheiterns und stolzen Aufgebens gespielt werden könnte). Ich hätte den Rumpf vor mir als eine handliche, klar umrissene Form: Frucht, Kern, Knolle, Klumpen, Gefäß, praller Sack, Sarg, Block, Bauteil, zugerichtetes Werkstück (so kann ich sogar das Weggelassene, Kopf, Arm, Bein, Phallus, freilich auch das verborgene Herz als Rumpf sehen). Um jetzt vom Rumpf noch etwas wegzunehmen, etwas herauszuholen oder hineinzulegen, müßte ich eindringen. Es mit dem Rumpf genug sein lassen, wäre auch wie zu sagen: nein, ich will kein Gegenstück zu meinem Kopf, keines zu meinem Geschlecht, zu meinen Armen und Beinen; es ist gut, daß das dort nicht mehr nach mir greifen, sich nicht festhalten, nicht mehr ausweichen kann; ich kann damit machen, was ich will, und ich habe, was dort fehlt.
Stein und Metall sind zwei Paar Schuhe. Kein Steinkörper kann so gleichförmig, so undurchdringlich, so glatt sein wie ein auf Glanz geschliffener Metallkörper. Unnahbarer, dichter verschlossen, strenger und reiner geht es nicht. Kein Fleisch. Der Stein ist dagegen das Leben selbst. Die Metallkörper verraten nichts. Es ist ihnen nicht anzusehen, daß sie der Abguß eines anderen Körpers sind und was sie hinter sich haben: Umwege der Herstellung im Wechsel von Verflüssigung und Erstarrung, von Schale und Kern, von Zerteilen und Zusammensetzen (die gratähnlichen Grenzen der Teile sind spurlos getilgt). Soll ein Metallkörper als unwiederholbares Einzelstück (wie der Stein) gesehen werden, so wird er auch eines, obwohl er grundsätzlich zu einer Reihe gleicher Stücke zu vervielfältigen wäre. Den Metallkörpern ist nicht anzusehen, daß sie rauh und stumpf wie Gußeisen gewesen sind. Sie wären jetzt goldfarben, wie neu, hätte nicht künstliche Verfärbung ihnen den Anschein von Alter und Unverwüstlichkeit (damit von beständigem Wert) gegeben: sie sind aus dem Feuer hervorgegangen und werden dem Feuer widerstehen wie auch dem Regen. Die künstvliche Verfärbung verändert eine natürliche und nimmt eine andere natürliche vorweg (so wird beschleunigt und Zeit gewonnen): schon jetzt ist der Metallkörper von allen unsichtbaren Gefahren der Welt durchglüht, angehaucht, geschwärzt, überronnen und verätzt. Es ist die Verfärbung des Gepanzerten (ein Schimmer, der auch an den Flügeldecken mancher Käfer zu sehen ist). Und auch das ist den Metallkörpern nicht anzusehen: daß sie ein umpanzerter Hohlraum sind. Ob Kopf oder Rumpf, gleich welche Form, dieser Körper ist ein leeres Gehäuse, eine Hülse, eine Kapsel. Klopfte ich mit dem Fingerknöchel an die Wand, wäre ein hohler, rasch erstickter Klang zu hören. Diese Körper wären auch an ihrem Klang zu unterscheiden. Ich stelle mir vor, sie wären nicht aufgestellt, sondern an ihrem Scheitelvpunkt aufgehängt: angeschlagen, würden sie frei schwingen und tönen wie Röhrenglocken, jeder nach seiner Art, eine fremde Körpermusik.
Wie kann es dazu kommen: nach einem uralten, aus dem Zusammenhang gebrochenen Stück unserer Welt zu suchen, unter großen Mühen und Kosten es an sich zu bringen (es ist ja so schwer, daß es den Boden durchdrücken könnte), um sich dann davor hinzustellen und es mit allem verfügbaren Können und Werkzeug in (weil es so hart ist) kräfte- und zeitraubender Arbeit so zu verändern, bis es mehr oder weniger unkenntlich ist und als Anderes ausgegeben und angesehen werden kann? Es heißt, es sei nur das Überflüssige zu entfernen, und eine Form, die eigentlich immer schon vorhanden gewesen sei, würde freigelegt und käme zum Vorschein. Ich nähme mir also dieses Stück Stein vor (es könnte etwa ein Portugiese sein, der bei einem Steinmetz irgendwo im Schlamm gelegen ist, auch ein abgekommener Grabstein oder eine ausgerissene Schwelle). Als meinen Gegenspieler, vielleicht auch als eines meiner Geschwister hätte ich es vor mir. Wir werden ja sehen, wie gut du bist, sagte ich und würde in den Stein einsteigen. Ich arbeitete wie in neuer Umgebung: Fremde, Stille, Einsamkeit (da lernt man!). Nahe am Block, näherte ich mich Schicht um Schicht, und noch immer wäre die Oberfläche mir nicht vollkommen genug, bis ich, von wachsendem Mißtrauen und Unvbehagen angestachelt, vorerst zaghaft, gegen diese erträumte Oberfläche arbeitete, sie ritzte, Lebenszeichen in sie hinein und aus ihr heraus schlüge, schürfte, Fährten legte, Schrift hinterließe. Kleine Versuchsfelder tilgte ich nicht mehr, Stellen blieben unbearbeitet (als wäre hier der Stein von seinem Steingrund losgelöst worden oder aus sonst lückenloser Abdeckung eine Art Fenster für einen Eingriff ausgeschnitten). Vielleicht müßte ich feststellen, daß der Stein, unvorhersehbar, nicht gut zu arbeiten ist. Ich quälte mich, ich sagte zu ihm: ich bestimme die Form, nicht du! Er saugte mir das Wasser aus der Haut. Hilf mir doch!, sagte ich zu ihm, und zu mir: es wird schon! Aber es wäre doch ein zäher Kampf, immer mit dem Wunsch, von mir wegzusehen. Ich fragte mich, ob ich mit dieser Arbeit nicht mich selbst vom Stein abspaltete und wegschliffe. Ich arbeitete hinein, um etwas herauszuarbeiten. Ich wüßte: ich übertrage etwas und zerstöre Schicht um Schicht den Stein, damit etwas entsteht. Ich folgte den Möglichkeiten. Ich wüßte: ich werde schleifen, bis es genug ist, bis sich dort zeigt, was ich gesucht habe; bis ich keine Möglichkeit mehr sehe; oder sobald ich mich beruhigt habe. Es gibt zwar keinen letzten Schliff und nichts Fixundfertiges, aber ich sagte: fertig!, und schlüge mit der Hand freundlich an diesen harten Körper wie einem Menschen auf die Schulter oder einem lieben Tier an die Flanke. Meine Arbeit wäre kein Tagebuch gewesen, sie hätte mich in meinem Schmerz begleitet, ich hätte mit diesem Körper eine eigene Geschichte erlebt. So wie er vorher war, hätte ich ihn bald nur noch ungenau in Erinnerung. Jetzt heißt es, woanders hinschauen, sagte ich, Leintuch drüber, das wars.
Überall und über allem der feine weiße Staub. Beim Anstreifen an die Wand, beim Hingreifen, beim Gehen, beim Hinatmen ein zartes Aufwirbeln. Der Staub brennt in den Augen, er dringt ins Innere des Kopfes und in die Lunge: ein Krankmacher, Schmerzbereiter und Feind wie auch die Dünste der Säuren, Preis, der zu zahlen ist. Es ist nicht zu ändern. So wird weitergegeben, was weggenommen worden ist. So wird Form eingeatmet. Die Atemschutz-Maske ist bestaubt. Vom Wandbrett hängt an glänzender Kette eine Taschenuhr: spiegelblank.
Hinter dem Obstgarten beginnt der Auwald. Manchmal ist das Wasser zu riechen. Aus der Nachbarschaft ewiges Gehämmer. Das Gras wächst so hoch: der Steinblock, der dort seit eh und je liegt und auf dem so gut zu sitzen ist, wäre kaum noch zu sehen, wäre zu ihm hin nicht schon ein kleiner Pfad ausgetreten. Wo die Wiese gemäht ist, liegt, von Wespen überkrochen, reichlich Fallobst. Wer soll das alles essen?
Ich sehe: ein müder Mensch stützt seinen Kopf so in die flache Hand, daß die Stirn und ein Auge bedeckt ist. Er scheint mit geschlossenen Augen, langsam atmend, auszuruhen. Aber das sichtbare Auge läßt mich zweifeln: ist es nicht doch einen Spalt geöffnet? Blickt er also steil nach unten, auf eine Buchseite, auf die andere schreibende oder zeichnende Hand? Nein, ich entscheide: die Augen sind geschlossen. Ist er eingeschlafen? Oder hat er nur Stirn, Auge, Wange gerieben? Gleich wird er aufschauen.
Ein weißes Rechteck: von seinen Rändern ist es weit zu seiner Mitte. Die Mitte: ein gedrängtes Nest von formendem Strichwerk, wasserzart gehöht, in kargen Erdfarben getönt. Landstück, Rüssel, Sprechversuch, langes Rückgrat, Rückenmark, Föhrenhügel, Holzstöße, Fluß der Gedanken durch den Kopf. Die Heuballen, Six O’Clock Man, Krieger, sich abwendend. Bißchen Angst, lese ich, ich treffe dich, es ist nichts passiert, in der Stunde des Todes. Wir sind die Toten, wie Zweige, schön präpariert, nicht versöhnt.
Eine Spielkarte, Herzkönig, verblaßt, abgeschabt, fleckig, wohl auf der Straße oder im Kies eines Gastgartens gefunden, ist mit einer Stecknadel an die Wand geheftet. Im schrägen Licht wirkt der bloßgelegte Kartengrund rauh wie Stein. Die Krone hat einen schönen glatten Schwung nach außen. Der König könnte ein Mädchen sein, so rund und jung ist sein Gesicht, so fein sind Nase und Mund, so frisch ist der Blick zur Seite hinaus.
Wäre es mir in Fleisch und Blut übergegangen, diese Körper zu erfinden, herzustellen und ihre Oberfläche tastend zu prüfen: mit welchen Gedanken und Gefühlen berührte ich einen lebendigen Menschenkörper?
Novalis: die Steine seien das Höchste, der Mensch sei das eigentliche Chaos. Und: Steine wirkten auf den Steinsinn des Menschen.
Ich höre: ein leerer Sack steht nicht. Ich lese: Farbvertiefer. Bunker. Ein Guß Wasser. Lederseife. Rostlöser. Zweckform. Rohling. Der ausgehöhlte Stamm.